Schöpfungsverantwortung im EU Wahlkampf

26. April 2019:

 

 

Beehrte europäische Mandanten, Urnengänger, Kreuzerlmacher und Vorzugsstimmenverschenker!

 

Es sind die Wochen der EU-Podiumsdiskussionen: Die Kandidaten ziehen durchs Land, treffen einander fast allabendlich zu öffentlichen Wortgefechten. Wir Journalisten sind häufig dabei, als Berichterstatter, Beobachter, Moderatoren.

 

So auch gestern Abend in Graz. Die Katholische Aktion hat ins Franziskanerkloster geladen, die Kandidaten von sieben Listen sitzen auf der Bühne. Zu Beginn spricht der Pfarrer von Dechantskirchen. Es geschieht das Unerwartete:

Mit jedem Wort mehr zieht der freundliche Geistliche die Zuhörer in seinen Bann. Denn er liest, zunächst verhalten und fast beiläufig, uns allen die Leviten.

 

Der Pfarrer spricht und spricht. Er malt, unterfüttert mit penibel angesammeltem Zeitungswissen, unerbittlich und unablässig ein großes Landschaftsbild des ökologischen Versagens: Bodenversiegelung, Stromverbrauch, Flugreisen, Verkehrs- und Konsumwahnsinn, Plastikmüll. Er benennt die Folgen: Artensterben, Klimawandel, Tierleid, verseuchte Meere. Und er fordert konkretes politisches Handeln: CO2-Steuer, Kerosinsteuer, kilometerabhängige PKW-Maut. Kurzum: Eine „Greta 2.0“ steht da vor uns, versehen mit zumindest niedrigen Weihen.

 

Betroffene Stille, dann tosender Applaus im Saal. Die Politiker lassen ihre üblichen Worthülsen und Giftpfeile im Köcher. Der Pfarrer hat sie herausgefordert, und jetzt sind sie bereit, ihr Blatt auf den Tisch zu legen. Man formuliert gemeinsam Lösungsansätze, wägt ab, setzt sich mit den unterschiedlichen Zugängen auseinander, geht aufeinander ein. Ja, man gibt einander sogar fallweise recht. Am Ende streckt einer spontan die Hand aus, um einer Konkurrentin zu ihren Worten zu gratulieren.

 

Hat man selten gesehen, so ein luzides Intervall. Plötzlich war da eine leichte Ahnung, dass noch nicht alles verloren ist. Dass womöglich doch etwas Konstruktives gelingen könnte im politischen Betrieb. Sie hätten es drauf, wenn sie wollen.

 

Vielleicht wars auch nur der genius loci. Dann sollten wir unsere Politiker öfter ins Kloster stecken.

 

Herzlichst

Ernst Sittinger

 

ernst.sittinger@kleinezeitung.at